“Wir leben in einer Welt, in der Beerdigungen wichtiger sind als der Verstorbene, die Ehe wichtiger ist als die Liebe, das Aussehen wichtiger als die Seele. Wir leben in einer Verpackungskultur, die Inhalte verachtet.”
– Sir Anthony Hopkins
Klare Worte vom Schauspieler. Vielleicht auch eine Abrechnung mit dem eigenen Berufsstand, der sich um Rollen und gelungene Veränderung im Außen dreht und viele innerlich verkümmern lässt. Manche werden ein Leben lang mit ihrer Paraderolle in Verbindung gebracht. Den damit verbundenen “Heiligenschein” oder die “Teufelshörner” werden viele nie wieder los.
Der Halo-Effekt und der Horn-Effekt sind kognitive Verzerrungen, bei denen ein einzelnes Merkmal einer Person oder eines Objekts den Gesamteindruck übermäßig beeinflusst.
Beispiel aus dem Alltag: Ein attraktiver Bewerber könnte im Vorstellungsgespräch als kompetenter und qualifizierter wahrgenommen werden, selbst wenn seine tatsächlichen Qualifikationen nicht so stark sind wie die von weniger attraktiven Mitbewerbern.
In meinem Buch “Rede-Diät” zitierte ich damals die Studie rund um das Thema Attraktivität als Imagefaktor:
An der Universität Pittsburgh wurden bereits vor Jahrzehnten Psychologiestudenten im Rahmen einer Studie 226 Fotos von Menschen unterschiedlicher Attraktivität vorgelegt. Sie sollten deren Kompetenz beurteilen. Von den weniger Attraktiven meinte man, dass sie den Anforderungen nicht gewachsen wären, die gut Aussehenden hielten die meisten für überzeugend. Weiters ergab die Studie, dass Interviewer attraktiven Menschen mehr Respekt entgegenbringen und unbewusst versuchen, sie der Öffentlichkeit in einem besseren Licht zu präsentieren.
Das hat bei Stimm- & Körpersprache-Experten und anderen Coaches die Frage aufgeworfen: Leben Schöne schöner? Auch dazu habe ich damals eine Studie angeführt: Genau das behauptet nämlich die amerikanische Soziologin Susan Sprecher1. Schon im Kreißsaal erhalten demnach schöne Babys mehr Zuwendung. Schöne Kinder kommen einfacher durch die Schule, da sie bei gleicher Leistung oft die besseren Noten erhalten. Sie haben mehr Freunde, weil wir uns alle lieber mit schönen Menschen umgeben. Das Selbstwertgefühl wächst und später, wenn sie berufstätig sind, verdienen schöne Menschen auch mehr Geld.
Susan Sprecher erklärt das mit dem “Nimbus-Effekt”, dieser ist jedoch nur ein Synonym für die “Heiligenschein-Wirkung”.
Der Horn-Effekt hingegen ist das Gegenteil des Halo-Effekts. Hier führt eine negative Eigenschaft dazu, dass auch andere Eigenschaften übel bewertet werden, selbst wenn keine klare Verbindung besteht.
Beispiel aus dem Alltag: Wenn jemand im Teammeeting einmal einen schlechten Vorschlag macht, könnten Kollegen dazu neigen, auch zukünftige Vorschläge dieser Person als weniger wertvoll oder durchdacht zu betrachten, obwohl die anderen Ideen durchaus handfest sein könnten.
In einer komplexen Welt braucht unser Gehirn die Fähigkeit, Inhalte zu clustern, sie in kleine “verpackbare Elemente” herunterzubrechen und in den jeweiligen Hirnarealen zu verstauen. Menschen, die sich beklagen “das ist doch reines Schubladendenken” haben offenbar nicht begriffen, was ihr Gehirn tagtäglich macht. Die gute Nachricht: Wir können den Halo-Effekt bewusst nutzen, um einen positiven Gesamteindruck beim Gegenüber zu erzeugen.
Wenn wir mal zur Kenntnis genommen haben, dass unsere Welt stark optisch funktioniert, dann wäre es doch empfehlenswert, sich besonders um den berühmten “ersten Eindruck” zu bemühen. Denn: Gepflegtes Äußeres, höfliche Umgangsformen, beziehungsbindende Maßnahmen wie ein Lächeln kosten noch gar nichts.
Im Rahmen ihrer Möglichkeiten sind auch positive Körpersprache, gute Artikulation und angenehme Stimmführung trainierbar und erschwinglich. Wenn wir dann auch noch Interesse an den Worten des anderen zeigen, helfen wir dem Halo in eigener Sache auf die Sprünge.
Nichts ist zu halten von Schmeichlern, die in Pastelltönen klanglich mit anderen kuscheln. Blender, die ihre Biografie mit üppigem Namedropping und Prahlhans-Orgien verzieren werden vom Gegenüber eher verballhornt.
Wenn Du auf inhaltliche Qualität Wert legst, dann solltest Du Dir jedoch schon bewusst sein, dass auch Du beim ersten Eindruck erst mal nach dem Äußeren beurteilt wirst. Viele Wissenschaftler und Denker werden Opfer des Horn-Effekts, obgleich an ihren Aussagen nichts auszusetzen ist. Aber es ist schon was dran an dem Satz: „Some people say that life is all about acquiring knowledge. If that’s true, then why do smart people always dress so badly?”
Wem Fachexpertise oder charakterliche Werte wichtig sind, der darf seine inhaltlichen Juwelen nicht durch mangelhafte Außenwirkung gefährden. Klar, oft kann erst der zweite Blick eine ganz andere Nähe zu einem Menschen entstehen lassen, aber viele haben beispielsweise im Bewerbungsprozess weder Zeit noch Lust eine weitere Chance einzuräumen.
Fazit: In unserer pseudo-smarten Tik-Tok-Gesellschaft sollten wir Vorsicht beim ersten Eindruck walten lassen und uns zwingen, tiefer unter die Oberfläche nach validen Beweisen zu tauchen. Wie oft hat sich das „hotte Date“, die „geniale Bewerberin“ oder der „Wunderwuzzi-Strategie-Berater“ als Reinfall erwiesen.
Vgl. https://www.nzz.ch/folio/haben-es-schone-schoner-ld.1615772, Stand 10.8.2024
Tatjana zu Gast in „Guten Morgen Österreich“ am 13.09.2024
Wie sehr beeinflussen die kognitiven Verzerrungen des Halo-Effekts unser Wahlverhalten? Wo erleben wir auch die Teufelshörner des Horn-Effekts?